Review und kritische Betrachtung der Traditionellen Chinesischen Medizin und ihrer Grundlagen

chinesischer Drache

Kritik an den Studien zur Akupunktur und den darauf beruhenden Meta-Analysen üben die Autoren in Hinblick auf das inkohärente Kontrollgruppendesign. Obgleich es Lösungen für das Problem der doppelten Verblindung gäbe (z.B. maskierte, nicht eindringende Nadeln1Die Autoren verweisen auf Takakura N, Yajima H.: A double-blind placebo needle for acupuncture research. BMC Complement Altern Med. 2007;7:31 und Takakura N, Yajima H.: A placebo acupuncture needle with potential for double blinding – a validation study. Acupunct Med. 2008;26:224–30.), bliebe die Validierung von Effekten durch Scheinakupunktur fraglich2Die Autoren verweisen auf Moffet HH.: Sham acupuncture may be as efficacious as true acupuncture: a systematic review of clinical trials. J Altern Complement Med. 2009;15:213–6. Die Autoren erwähnen – allerdings ohne eine Quelle anzugeben – sogar Studien, die gezeigt hätten, dass die Effekte der Scheinakupunktur in der Regel die normalen placebokontrollierten Effekte überträfen., auch weil penetrierende Sham-Nadeln im Vergleich zur konventionellen Akupunkturtherapie die ähnlichsten Ergebnisse erzielen3Die Autoren verweisen auf MacPherson H, Vertosick E, Lewith G, Linde K, Sherman KJ, Witt CM, et al.: Influence of control group on effect size in trials of acupuncture for chronic pain: a secondary analysis of an individual patient data meta-analysis. Plos One. 2014;9:e93739. und es darüber hinaus Hinweise gibt, dass die Wirkuungen der Akupunktur möglicherweise nicht spezifisch für einen Akupunkturpunkt sind.4Die Autoren verweisen auf Han JS.: Physiology of acupuncture: review of thirty years of research. J Altern Complement Med. 1997;3(Suppl 1):S101–S8 und Lundeberg T, Lund I, Näslund J.: Acupuncture – -self-appraisal and the reward system. Acupunct Med. 2007;25:87–99.

Was die Sicherheit der Akupunktur betrifft, so liegen den Autoren zufolge nur wenige hochwertige Daten vor. Eine systematische Übersichtsarbeit von Chan et al. (20175Chan MWC, Wu XY, Wu JCY, Wong SYS, Chung VCH.: Safety of acupuncture: overview of systematic reviews. Sci Rep. 2017;7:3369.) zeigt auf, dass die analysierten Studien kein A-priori-Design und keine ausreichenden Nachbeobachtungszeiträume aufwiesen. Kleinere Ereignisse konnten deshalb nicht überprüft werden. Außerdem handelte es sich bei der Mehrzahl der analysierten Daten um Fallberichte, und obwohl über Organ- oder Gewebeverletzungen, Infektionen und lokale Ereignisse berichtet wurde, schienen schwerwiegende unerwünschte Wirkungen nur selten aufzutreten.

Die Autoren fassen zusammen, dass Akupunktur eine gewisse Wirkung bei der Behandlung von Krankheiten wie Migräne, Schmerzen im unteren Rückenbereich und allergischer Rhinitis zeige, es jedoch keine schlüssige wissenschaftliche Grundlage für ihre Wirkungsweise gäbe.6Zudem müssten wegen des Problems des Kontrollgruppendesigns und der sich daraus ergebenden Heterogenität der in systematische Übersichten und Metaanalysen einbezogenen Primärstudien die angegebenen Effektgrößen mit Vorsicht betrachtet werden.

TCM-Diagnostik

Patient*innen, die von TCM-Ärtz*innen behandelt werden, sind tendenziell zufriedener als Patient*innen eines*einer Allgemeinmediziner*in7Die Autoren führen zudem aus, dass die TCM-Konsultation durchschnittliche 9 Minuten länger sei als die eines*einer Allgemeinmediziner*in., wobei der Diagnoseerstellung eine besondere Bedeutung zukommt: Auf Basis von (insbesondere) Beobachtung, Befragung, Hören, Riechen und Tastbefunden wird eine sogenannte Syndromdiagnose erstellt.8Die Autoren verweisen auf Cheng F, Wang X, Song W, Lu Y, Li X, Zhang H, et al.: Biologic basis of TCM syndromes and the standardization of syndrome classification. J Tradit Chin Med Sci. 2014;1:92–7. Diese, so geben die Autoren zu bedenken, sind allerdings bis zu einem gewissen Grad subjektiv und damit auch in gewissem Maß unzuverlässlich.9Die Autoren verweisen auf O’Brien KA, Abbas E, Zhang J, Guo Z‑X, Luo R, Bensoussan A, et al.: Understanding the reliability of diagnostic variables in a Chinese medicine examination. Altern Complement Med. 2009;15:727–34.

Mehrere Studien untersuchen die Genauigkeit der TCM-Diagnostik10Um die klinische Wirksamkeit eines diagnostischen Verfahrens zu bewerten, werden die Inter-Rater- und die Intra-Rater-Reliabilität herangezogen: Während sich die Inter-Rater-Reliabilität auf die Objektivität eines diagnostischen Verfahrens bezieht, quantifiziert die Intra-Rater-Reliabilität dessen Reproduzierbarkeit. bei Schmerzen im unteren Rückenbereich11Hogeboom CJ, Sherman KJ, Cherkin DC.: Variation in diagnosis and treatment of chronic low back pain by traditional Chinese medicine acupuncturists. Complement Ther Med. 2001;9:154–66., chronischen Kopfschmerzen12Linde K, Allais G, Brinkhaus B, Fei Y, Mehring M, Vertosick EA, et al.: Acupuncture for the prevention of episodic migraine. Cochrane Database Syst Rev. 2016. und rheumatoider Arthritis13Coeytaux RR, Chen W, Lindemuth CE, Tan Y, Reilly AC.: Variability in the diagnosis and point selection for persons with frequent headache by traditional Chinese medicine acupuncturists. J Altern Complement Med. 2006;12:863–72. Dabei fand sich eine erhebliche Variabilität bei den diagnostizierten TCM-Mustern (Syndromen) und der Auswahl der Akupunkturpunkte. Außerdem wurde eine nur geringe Übereinstimmung zwischen den TCM-Praktiker*innen festgestellt. Konkret gehen die Autoren dann auf die Puls- und die Zungendiagnostik ein.

Für die Studienautoren erscheint die Pulsdiagnostik, die manchmal als der wichtigste diagnostische Ansatz der TCM bezeichnet wird, als höchst fragwürdig (und auch nicht durch eine breite Forschungsbasis gestützt), wenn sie zur Diagnostik über systemische Ereignisse wie Sepsis oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen hinaus verwendet wird.14Die Autoren erwähnen hier explizit die Erkennung einer Schwangerschaft. Kritisiert wird der Mangel an Evidenz und Standardisierung, so die Verwendung von Beschreibungsmustern, die vor 500 und mehr Jahren entstanden sind15Z.B. ein Puls wie „ein leichtes Messer, das Bambus schabt“ oder wie „eine kranke Seidenraupe, die ein Blatt frisst“ (Quelle: King E, Cobbin DM, Walsh S, Ryan D.: The reliable measurement of radial pulse characteristics. Acupunct Med. 2002;20:150–9., dazu kommen für sie noch fragwürdige Aussagen, dass TCM-Ärzte gewohnt sind, den Puls nach ihrer eigenen Wahrnehmung und nicht auf rationaler Basis zu beurteilen.16Angegebene Quelle: Yan Tang AC.: Review of traditional Chinese medicine pulse diagnosis quantification. InTech. 2012. Sie sehen den diagnostischen Wert der Pulsuntersuchung zudem durch eine Studie von Walsh et al. (200117Walsh SP, Cobbin DM, Bateman K, Zaslawski CJ.: Feeling the pulse. Eur J Orient Med. 2001;3(5):25–31.) in Frage gestellt, weil grundlegende Pulsparameter wie Geschwindigkeit, Tiefe, Volumen, Länge und Qualität sehr unterschiedlich bewertet wurden, gleichwohl Walsh et al. zum Schluss kamen, dass die mangelnde Objektivität nicht in der Zuverlässigkeit der Pulsdiagnostik selbst läge, sondern in Unzulänglichkeiten der einschlägigen Literatur, in der Qualität der Lehre und in unzureichender klinischer Praxis.

Kritisch äußern sich die Autoren auch zur Zungendiagnostik, die sie zwar als plausibel in Bezug auf lokale Erkrankungen, wie z.B. orale Candidiasis, oder systemische Erkrankungen, wie das Sjögren-Syndrom18Das Sjögren-Syndrom ist eine chronische Autoimmunerkrankung, die vor allem zu einer Entzündung der Speichel- und Tränendrüsen führt., sehen, nicht aber zur Bewertung komplexer klinischer Fragestellungen, zur Beurteilung des aktuellen Gesundheitszustandes oder bestimmter innerer Organe. Weder gäbe es ein breites Spektrum an hochwertigen Studien, die diese Ansicht unterstützen, noch wurde in Studien zur Zungendiagnostik eine hohe Interrater-Reliabilität festgestellt.19Interrater Reliabilität liegt vor, wenn mehrere Personen die gleichen Daten auswerten und dabei die gleichen Ergebnisse produzieren. Eine Studie von Lo et al. (201220Lo L, Chen Y‑F, Chen W‑J, Cheng T‑L, Chiang JY.: The study on the agreement between automatic tongue diagnosis system and traditional Chinese medicine practitioners. Evid Based Complement Alternat Med. 2012; https://​doi.​org/​10.​1155/​2012/​505063.) fand nur eine mäßige Übereinstimmung zwischen den verschiedenen TCM-Praktiker*innen, was Merkmale wie Zungenfarbe, Zungenflecken und Speichel betraf.21An der Studie von Lo et al. nahmen 12 TCM-Praktiker*innen teil, die insgesamt 20 Patient*innen beurteilten, wobei der Austausch zwischen den Behandler*innen die Gesamtübereinstimmung nicht erhöhte. Ebenfalls wenig diagnostische Übereinstimmung erbrachte eine von Kim et al. (200822Kim M, Cobbin D, Zaslawski C.: Traditional Chinese medicine tongue inspection: an examination of the inter- and Intrapractitioner reliability for specific tongue characteristics. J Altern Complement Med. 2008;14:527–36.) durchgeführte Studien von 20 TCM-Praktiker*innen, denen zehn realistische Zungendarstellungen vorgelegt wurden.

Die Autoren fassen zusammen, dass die Forschung zu TCM-Diagnosemethoden noch in den Kinderschuhen steckt und zitieren die Ansicht der erwähnten Forscher*innen, dass es notwendig sei, dass die den Diagnosen zugrundeliegenden Prinzipien standardisiert werden müssten, um einem modernen Medizinverständnis zu entsprechen.23Die Autoren erachten in diesem Kontext die Einbeziehung metrischer Daten, die von objektiven biochemischen Markern abgeleitet werden, als zwingend erforderlich, ebenso die objektive und klare Definition von TCM-Diagnosen.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Die Autoren verweisen auf Takakura N, Yajima H.: A double-blind placebo needle for acupuncture research. BMC Complement Altern Med. 2007;7:31 und Takakura N, Yajima H.: A placebo acupuncture needle with potential for double blinding – a validation study. Acupunct Med. 2008;26:224–30.
  • 2
    Die Autoren verweisen auf Moffet HH.: Sham acupuncture may be as efficacious as true acupuncture: a systematic review of clinical trials. J Altern Complement Med. 2009;15:213–6. Die Autoren erwähnen – allerdings ohne eine Quelle anzugeben – sogar Studien, die gezeigt hätten, dass die Effekte der Scheinakupunktur in der Regel die normalen placebokontrollierten Effekte überträfen.
  • 3
    Die Autoren verweisen auf MacPherson H, Vertosick E, Lewith G, Linde K, Sherman KJ, Witt CM, et al.: Influence of control group on effect size in trials of acupuncture for chronic pain: a secondary analysis of an individual patient data meta-analysis. Plos One. 2014;9:e93739.
  • 4
    Die Autoren verweisen auf Han JS.: Physiology of acupuncture: review of thirty years of research. J Altern Complement Med. 1997;3(Suppl 1):S101–S8 und Lundeberg T, Lund I, Näslund J.: Acupuncture – -self-appraisal and the reward system. Acupunct Med. 2007;25:87–99.
  • 5
    Chan MWC, Wu XY, Wu JCY, Wong SYS, Chung VCH.: Safety of acupuncture: overview of systematic reviews. Sci Rep. 2017;7:3369.
  • 6
    Zudem müssten wegen des Problems des Kontrollgruppendesigns und der sich daraus ergebenden Heterogenität der in systematische Übersichten und Metaanalysen einbezogenen Primärstudien die angegebenen Effektgrößen mit Vorsicht betrachtet werden.
  • 7
    Die Autoren führen zudem aus, dass die TCM-Konsultation durchschnittliche 9 Minuten länger sei als die eines*einer Allgemeinmediziner*in.
  • 8
    Die Autoren verweisen auf Cheng F, Wang X, Song W, Lu Y, Li X, Zhang H, et al.: Biologic basis of TCM syndromes and the standardization of syndrome classification. J Tradit Chin Med Sci. 2014;1:92–7.
  • 9
    Die Autoren verweisen auf O’Brien KA, Abbas E, Zhang J, Guo Z‑X, Luo R, Bensoussan A, et al.: Understanding the reliability of diagnostic variables in a Chinese medicine examination. Altern Complement Med. 2009;15:727–34.
  • 10
    Um die klinische Wirksamkeit eines diagnostischen Verfahrens zu bewerten, werden die Inter-Rater- und die Intra-Rater-Reliabilität herangezogen: Während sich die Inter-Rater-Reliabilität auf die Objektivität eines diagnostischen Verfahrens bezieht, quantifiziert die Intra-Rater-Reliabilität dessen Reproduzierbarkeit.
  • 11
    Hogeboom CJ, Sherman KJ, Cherkin DC.: Variation in diagnosis and treatment of chronic low back pain by traditional Chinese medicine acupuncturists. Complement Ther Med. 2001;9:154–66.
  • 12
    Linde K, Allais G, Brinkhaus B, Fei Y, Mehring M, Vertosick EA, et al.: Acupuncture for the prevention of episodic migraine. Cochrane Database Syst Rev. 2016.
  • 13
    Coeytaux RR, Chen W, Lindemuth CE, Tan Y, Reilly AC.: Variability in the diagnosis and point selection for persons with frequent headache by traditional Chinese medicine acupuncturists. J Altern Complement Med. 2006;12:863–72.
  • 14
    Die Autoren erwähnen hier explizit die Erkennung einer Schwangerschaft.
  • 15
    Z.B. ein Puls wie „ein leichtes Messer, das Bambus schabt“ oder wie „eine kranke Seidenraupe, die ein Blatt frisst“ (Quelle: King E, Cobbin DM, Walsh S, Ryan D.: The reliable measurement of radial pulse characteristics. Acupunct Med. 2002;20:150–9.
  • 16
    Angegebene Quelle: Yan Tang AC.: Review of traditional Chinese medicine pulse diagnosis quantification. InTech. 2012.
  • 17
    Walsh SP, Cobbin DM, Bateman K, Zaslawski CJ.: Feeling the pulse. Eur J Orient Med. 2001;3(5):25–31.
  • 18
    Das Sjögren-Syndrom ist eine chronische Autoimmunerkrankung, die vor allem zu einer Entzündung der Speichel- und Tränendrüsen führt.
  • 19
    Interrater Reliabilität liegt vor, wenn mehrere Personen die gleichen Daten auswerten und dabei die gleichen Ergebnisse produzieren.
  • 20
    Lo L, Chen Y‑F, Chen W‑J, Cheng T‑L, Chiang JY.: The study on the agreement between automatic tongue diagnosis system and traditional Chinese medicine practitioners. Evid Based Complement Alternat Med. 2012; https://​doi.​org/​10.​1155/​2012/​505063.
  • 21
    An der Studie von Lo et al. nahmen 12 TCM-Praktiker*innen teil, die insgesamt 20 Patient*innen beurteilten, wobei der Austausch zwischen den Behandler*innen die Gesamtübereinstimmung nicht erhöhte.
  • 22
    Kim M, Cobbin D, Zaslawski C.: Traditional Chinese medicine tongue inspection: an examination of the inter- and Intrapractitioner reliability for specific tongue characteristics. J Altern Complement Med. 2008;14:527–36.
  • 23
    Die Autoren erachten in diesem Kontext die Einbeziehung metrischer Daten, die von objektiven biochemischen Markern abgeleitet werden, als zwingend erforderlich, ebenso die objektive und klare Definition von TCM-Diagnosen.

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